Atemschule  
 

Kapitel 6.

 “Alle Lust will Ewigkeit”

“Alle Lust will Ewigkeit” ist als Zitat entnommen dem “Nachtwandler-Lied ” aus dem vorletzten Kapitel von Friedrich Nietzsches “Also sprach Zarathustra” : “Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!" Die einzelnen Verse des Liedes werden jeweils begleitet von einem mitternächtlichen Glockenschlag. Das Lied wird beim ersten Glockenschlag eingeleitet mit dem Weckruf “Oh Mensch! Gieb Acht!”
Warum will Nietzsche uns mit jedem “Glockenschlag” wecken und uns Menschen ins Bewusstsein rufen? Worauf sollen wir Acht geben? Und was hat das mit dem zehnten Glockenschlag der Lust zu tun?

Im Dunkel der Nacht wird der Mensch mit der Wahrheit konfrontiert: die Wahrheit, dass er ein Lust-und Verlangen-Wesen ist. Der Mensch will. Sein Ego will. Lust ist uns Menschen eingepflanzt, um das Leben, seine Lebendigkeit zu genießen, sei es als sexuelle Lust, Lust am Spiel, Lust am Essen und Trinken, Lust am Denken - Lust an allem, was dem Menschen guttut, ihm keine Schmerzen bereitet. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt darüber: “Wenn wir von einer Sache den Eindruck haben, es wäre gut, wenn es bald zu Ende ginge, muss diese Sache weh tun oder wehgetan haben. 

Wenn hingegen etwas nicht beendet werden soll, wenn wir wollen, dass es bleibt, wenn wir einer Beziehung, einer Erfahrung oder einem Gegenstand Dauer verleihen wollen, dann offensichtlich deshalb, weil er uns Lust bereitet”. (Liessmann, Alle Lust will Ewigkeit, S.244) Wenn wir also etwas Schönes erlebt, empfangen haben, dann wollen wir es immer wieder von Neuem spüren, wollen, dass es sich wiederholt - wollen nicht, dass es endet. Lust will den Augenblick festhalten. Ganz im Präsens genießen. Es ist, als ob auch das Bewusstsein vom Leben aus dieser Lust und dem Verlangen gespeist ist. Und gleichzeitig wissen wir Menschen ganz genau - wenn wir es nicht verdrängen - dass jede Lust endet, dass auch die schönen Augenblicke zu Ende gehen, dass unter Umständen das Leben wieder übergeht in einen schmerzlichen und schwierigen Alltag. Und so sind wir tatsächlich in einen ewigen Kreislauf eingebunden, Auswege aus dem Schmerz in der Lust zu suchen, bis dahin, dass Beruhigungspillen und Entspannungsdrogen helfen sollen, alles Schmerzhafte und weniger Lustvolle wegzudrücken. Das Bewusstsein lässt sich offenbar gerne täuschen. Zarathustra warnt zumindest: “Mensch, gib Acht!”
Die Ewigkeit schenkt Lust.

Die Wahrheit über unsere menschliche Lust, die Nietzsche im Mitternachtslied zum Klingen bringt, hört sich an wie ein Glockenschlag auf das Leben, da Lust und Leben zusammengehören. Aus einer anderen Perspektive spricht Nietzsche nur die halbe Wahrheit aus, nicht nur, dass Lust zum Leben gehört und durch ihre Wiederkehr das Leben erhält und Ewigkeit will, sondern umgekehrt: Es ist die Ewigkeit, die Lust will. “Die Ewigkeit schenkt Lust, weil sie selbst Lust und Vergnügen hat”. Das würde bedeuten, dass aus Ewigkeit her uns Menschen das Lustprinzip "eingepflanzt" ist und unser Bewusstsein wahrhaben soll, dass die Lust zu uns gehört, um zu leben und das Leben in seiner Lebendigkeit zu erkennen.

Was aber ist die “Ewigkeit” bzw. das “Ewigkeits-Prinzip” und was hat das mit unserem Bewusstsein zu tun?

Was von Ewigkeit her da ist und in Ewigkeit sein wird, als Geschehen oder als Kraft, erkennt der Mensch in seinem glaubenden Bewusstsein als göttliche Kraft - es ist die Frage nach Gott bzw. dem Göttlichen und dem Schöpfer. Die Frage nach Gott ist eine der tiefsten Fragen, die dem menschlichen Bewusstsein aufgegeben ist. Sie führt uns an die Grenzen des Denkens und lädt uns ein, in das Mysterium einer göttlichen Kraft einzutauchen, die sich zwar in uns entfaltet, aber gleichzeitig unseren rationalen Begriffen und Vorstellungen entgleitet. Diese Suche nach dem Göttlichen führt uns in einen Raum, der nicht nur unser Verstand, sondern auch unser Herz und unsere Seele ansprechen muss, es ist dieser Zeit-Raum der Ewigkeit.

Wir haben allerdings Schwierigkeiten, diese göttliche Ewigkeit in Worte zu fassen. Ein treffendes Zitat des spanisch-indischen Theologen Raimon Panikkar lautet: „Jeder Name für Gott ist eine Tür, und jede Tür führt ins Nichts.“ Dieses Bild verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass jede noch so präzise formulierte Vorstellung vom Göttlichen immer nur ein Annäherungsversuch bleibt. In diesem Sinne ist der Name „Gott“ oder „Schöpfer“ lediglich eine Tür, die uns an die Schwelle einer unendlichen Tiefe führt, die uns letztlich wieder in die Stille des Unfassbaren zurückführt.

Für diese innere Führung ist der Atem dabei ein schönes Symbol. So wie der Atem uns lebendig hält, so führt uns das Göttliche in jedem Augenblick. Wer sich seiner Atmung und dieser inneren Führung bewusstwird, erkennt, dass er nicht passiv durch das Leben treibt, sondern aktiv im Einklang mit einer höheren Ordnung handelt. Dieses Bewusstsein ermöglicht es uns, in Balance mit uns selbst und der Welt zu leben.

Das Bewusstsein dieser göttlichen Präsenz ist ein Prozess des Erwachens. Wie ein Schläfer, der in der Nacht - wie im Mitternachtslied von Nietzsche - plötzlich aus seinem Traum aufwacht, beginnen wir zu erkennen, dass unser Leben Teil eines viel größeren Ganzen ist. Wir sind nicht mehr Marionetten unserer eigenen Wünsche und Ängste, sondern werden zu bewussten Akteuren in einem göttlichen Spiel, das in jedem von uns eine einzigartige Rolle zum Ausdruck bringt. Dieses Erwachen ist jedoch kein einmaliger Akt. Es ist ein kontinuierlicher Prozess der Verfeinerung und Läuterung. Dabei ist es wichtig zu lernen, unser eigenes Ich zu transzendieren und uns für die göttliche Energie in uns zu öffnen. Dieser Prozess geschieht nicht durch intellektuelles Wissen, sondern durch Erfahrung und Praxis – indem wir in Stille und Achtsamkeit die innere Führung erkennen und uns ihr anvertrauen.

Der große Kabbalist Baruch Ashlag, genannt auch Rabash, beschreibt den Sinn dieser inneren Praxis mit den Worten: “ Die tiefe Verbindung zum Schöpfer wird jedem von uns helfen, den Zweck unseres Lebens, die Wurzel unserer Seelen und die Art, wie man endlosen Genuss erlangt, zu verstehen. Indem wir das erreichen, werden wir das Ziel der Schöpfung vollenden und all den Genuss und das Vergnügen empfangen, welche für jeden von uns vorbereitet sind.” (Baruch Ashlag, Art.03, 1990). Der Kabbalist verbindet im Gegensatz zu Nietzsche Ewigkeit und Lust bzw. Genuss in der Weise, dass die “Ewigkeit”, der Schöpfer, in seiner Liebe zum Menschen genau das vorgesehen hat: dass zur Vollendung der Schöpfung Genuss und Vergnügen gehören - aber nicht in ferner Ewigkeit, sondern in dem Augenblick, in dem der Mensch sein Bewusstsein ändert. 

Aus dieser kabbalistischen Sicht geht es darum, sich dem Leben so zuzuwenden, sich im Glauben und Bewusstsein von dem Satz leiten zu lassen, der zum Kern des Lebens werden soll: “Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst” - „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“… , so schreibt Rabash weiter, “kann einfach dadurch erreicht werden, dass wir unsere Einstellung zur Wirklichkeit verändern; es ist nicht notwendig, irgendwelche äußeren Veränderungen durchzuführen. Wenn wir darin Erfolg haben, so vielen Menschen wie möglich beizubringen, sich auf diese Weise dem Leben zuzuwenden, werden wir uns rasch in einer viel ruhigeren und friedlicheren Welt wiederfinden.”

Dass wir Menschen von Kopf bis Fuß auf Verlangen eingestellt und geschaffen sind und Lust und Genuss zu unserer Natur gehören, ist eine Kernaussage, in der die Kabbalisten mit Nietzsche übereinstimmen. Die Kabbalisten nennen die Lust ein “Verlangen, für sich selbst zu empfangen”. Und für sich selbst empfangen heißt, für den eigenen Nutzen zu leben, alles zu tun, was uns nutzt. Das bestimmt unser “Herz” und gleichzeitig unser Bewusstsein. Der Kabbalist Yehuda Ashlag, der Vater von Rabash, schreibt darüber in seiner Schrift Matan Tora (Gabe der Tora):

“Der Wille, um des eigenen Nutzens willen zu empfangen, wird „der Böse Trieb“ genannt, weil alles, was der Trieb dem Menschen vorschlägt zu tun, ist, alles einzig und alleine aus egoistischem Empfangen heraus zu tun, und das schadet dem Menschen.”

Also auch hier ist ein “Gib Acht” zu hören: Wenn wir nur aus unserem egoistischen Verlangen unser Leben gestalten, ein Verlangen, das auch in unserem Bewusstsein verwurzelt ist, dann ist das für uns Menschen nicht gut und dann bekommen wir die schmerzlichen Folgen zu spüren. Was “böser Trieb” genannt ist, ist keine moralische Qualifizierung. Böse steht für Schaden - das Böse schadet uns, m.a.W. wir schaden uns selbst. Um das zu erkennen, braucht es ein neues Bewusstsein oder eine Transformation unseres Bewusstseins. Es geht nicht darum, dass wir unsere “alte” Natur ablegen und eine neue anziehen. 

Wie soll das gehen? Es ist, als ob wir über unsere Natur ein “neues Kleid” anziehen - Lust und Vergnügen werden nicht vernichtet - sie werden in eine neue Richtung gelenkt, auf die schöpferische Kraft hin, die ganz Geben und Liebe ist. Die Lust des Schöpfers, der “Ewigkeit”, ist Lust und Vergnügen zu geben, zu schenken. Und die Frage ist, ob wir Menschen darin nicht den Schöpfer nachahmen sollten, nachahmen seine Eigenschaft zu geben, die für uns in dem Satz mündet: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.

Yehuda Ashlag führt weiter aus: “…der einzige Grund …, warum der Mensch das Gute und den Genuss nicht erlangen kann, die der Schöpfer den Geschöpfen zukommen lassen will”, ist, dass der Mensch nicht in der Lage ist, zu geben. Der Mensch will selbst beim Geben noch empfangen. Geben nützt immer noch ihm selbst. Das ist seine Natur. Will der Mensch in voller Absicht die Eigenschaft des Schöpfers nachahmen, in dem Verlangen zu geben, so dass das Geben selbst zur Lust wird, und in die Tat umsetzen, dann ist das nur möglich und erfahrbar in der Dimension von Lieben. Die Kabbalisten sprechen hier von einem “Empfangen, um zu geben” als vollkommene Form der Liebe. Das umzusetzen braucht Geduld und ist nur denkbar als Entwicklung in Gemeinschaft mit anderen.

Zusammenfassung
Auf unserer Lebensbühne spielen Lust und Genuss eine zentrale Rolle, wenn nicht  d i e  Rolle überhaupt. Das hat Folgen für unser Bewusstsein und entsprechend für unser Handeln. Erkennt unser Bewusstsein, dass unser “Empfangen - wollen” auf Dauer schadet, scheint der einzige Schlüssel zu sein, unser Bewusstsein auf das zu lenken, was uns hilft, das Leben mit einem neuen Sinn zu füllen, hin zu einem neuen Verständnis der Natur, die nur gibt wie der Schöpfer, und nicht nimmt, und hin zu einer neuen Gebens-Qualität: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. Das geschieht nicht von heute auf morgen: die Transformation des Bewusstseins ist als ein Entwicklungsprozess zu verstehen, den ein Einzelner nicht leisten kann. Das ist aus aller Erfahrung nur in einer Gruppe möglich mit Gleichgesinnten, die die gleiche Absicht haben.

In diesem lebendigen Dreieck Schöpfer-Geschöpf-Mitgeschöpf oder Gott-Mensch-Nächster wird die Lust zum Geben der entscheidende Motor für eine Transformation. Diese Lust zum Geben wird in der Dimension der Liebe erfahrbar. Je mehr wir am Wohlwollen anderer interessiert sind und uns darum bemühen, das zu tun, was anderen nützt und vom eigenen Nutzen absehen, entsteht automatisch das Gefühl von Verbindung. 

Den oder diejenigen, die wir lieben, denen fühlen wir uns verbunden - und umgekehrt: wenn unser Bewusstsein erst einmal wahrnehmen kann, dass wir durch das Göttliche bereits als Menschheit verbunden sind, dann kann geradezu ein Verlangen entstehen, anderen Gutes zu tun, ein Genuss zu geben. So ist Liebe ein fortwährender Prozess der Transformation, der Öffnung und Einladung. Aus diesem Bewusstsein heraus lässt sich auch die Welt neu verstehen - und das beginnt damit anzuerkennen, dass “die Ewigkeit” ins Geben verliebt ist, sich verschenkt, Genuss empfindet, wenn wir lieben.