Atemschule  
 


Kapitel 8 & 9

Persönliche spirituelle Erfahrung im „Welthaus“: Gegensätze


Es ist mir nicht verborgen geblieben und sei auch nicht verschwiegen, dass während der spirituellen Arbeit Fragen auftauchen, die sich auf widersprüchliche Erfahrungen beziehen: In der Spiritualität ist von Liebe bzw. Nächstenliebe die Rede, während in unserer tatsächlichen Arbeits- und Lebenswelt wenig davon zu spüren ist. Da zeigen sich Eigenschaften wie Hass, Neid, Eifersucht. Und statt Vertrauen ist Misstrauen zu spüren und Angst. Statt Frieden Krieg! Wie vertragen sich diese Gegensätze im Welthaus? Wie passt ein Gott des Lebens zum Leid, ein Gott des Friedens zu den zahllosen Kriegen und Morden? Wie ist es möglich, das Göttliche zu spüren in diesen Gegensätzen und Widersprüchen?
In zwei Gedankenreihen versuche ich darzustellen, wie ich mit diesen Gegensätzen umgehe:
Betrachtung der Liebe als Fluss.


Stellen wir uns eine reine Bergquelle vor, frisches Wasser zum Trinken. Die Quelle entspringt aus felsigem Grund. Ihr klares Wasser wirkt unberührt und darum lebenspendend. Es formt sich ein Gebirgsbach, der schließlich zu einem Fluss wird und durch unsere Kulturlandschaft fließt. Auf diesem Weg kommt es zu Verschmutzungen und Verunreinigungen. Könnte die reine göttliche Liebe nicht ebenso wie eine Quelle verstanden werden? Und wenn sie sich ihr “Flussbett” durch unsere menschlichen Herzen bildet, wird sie verunreinigt durch unsere Bedürfnisse, Ängste, Unsicherheiten und Machtgebärden?  Für die Liebe als Lebenselixier bedeutet das: im reinen Zustand ist sie vollkommen, doch unser weltliches Menschsein mit all seinen Verlangen, Begrenzungen und Illusionen kann diese Klarheit trüben. Durch unsere Selbstzentriertheit und unsere Illusionen projizieren wir Gegensätzliches und auch negative Empfindungen auf die reine Liebe und verwandeln sie in Hass, Neid, Eifersucht, Schuld und Angst. Wir benutzen sie zur Manipulation, Dominanz und Kontrolle.


An diesem Beispiel  Liebe wird deutlich, dass wir Menschen aus uns heraus den Widerspruch von Liebe und Hass produzieren. Der Widerspruch findet in uns und durch uns statt.


Betrachtung der Liebe als Einheit in Gegensätzen


Die Welt als Schöpfung Gottes, in der wir existieren und leben, ist voller Gegensätze: Leben und Tod, Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Liebe und Hass, Hoch und Tief, Gesund und Krank, Gut und Böse. Es ist, als ob wir unser Leben zwischen zwei Polen erleben, und es uns schwerfällt, dies zu akzeptieren. Unser Verlangen ist ein Leben im Entweder-Oder. Beides geht scheinbar nicht zusammen. Diese Zweipoligkeit wird “Bipolarität” genannt, ähnlich der Elektrizität Plus und Minus.


Meine Erfahrung mit Bipolarität ist, dass ich in beiden Polen die Einheit des Göttlichen sehen kann. In diesen zwei Polen, die wir als Gegensätze wahrnehmen, zeigt sich für mich die Einheit des Göttlichen. Unsere Aufgabe ist es, diese Gegensätze als Einheit zu erkennen. Um es am Beispiel der Liebe zu verdeutlichen: Auf diesem Weg der Selbsterkenntnis in einer Gruppe setzen sich die Gruppenmitglieder  mit ihrem Ego-Verlangen auseinander, entdecken dabei, dass sie ihre Verlangen nicht abtöten müssen - denn dann könnten sie als emotionale Wesen auch nicht mehr lieben - sondern lernen dabei, wie sie ihre egoistischen Bedürfnisse umwandeln, indem sie das Bedürfnis entwickeln, sich der hingebenden schöpferischen Liebe anzugleichen. Sie lernen bewusst die Anerkennung und Zuneigung zum Menschen,  andere in ihren Unterschieden zu akzeptieren. Das habe ich dabei gelernt: die Einheit, das Gemeinsame zu sehen trotz unserer Unterschiede in der Gruppe. Und unser Ziel ist es, die Trennungen, die aus den Unterschieden herrühren, zu überwinden und an einem gemeinsamen Netz zu knüpfen.


Um zur reinen Liebe zurückzukehren, ist es unsere Aufgabe, der Natur unseres unbewussten Menschseins bewusst zu werden. Selbsterkenntnis in der Gegensätzlichkeit ist der Schlüssel, um die Verunreinigungen zu durchdringen und die klare Quelle der Liebe wieder freizulegen. Dies erfordert einen bewussten Prozess der Reinigung unserer Gedanken und Handlungen. Indem wir die negativen Emotionen, die unser unbewusstes Menschsein erzeugt, erkennen und integrieren, können wir die reine Liebe wieder in ihrer ursprünglichen Form erleben.


Diese höhere Erkenntnis ist für mich ein zentraler Aspekt der spirituellen Reise geworden. Sie führt zur Einsicht, dass die gegensätzlichen negativen Eigenschaften, die wir erleben, lediglich verunreinigte Formen der göttlichen Liebe sind.
So wächst aus  Hass und Eifersucht das Verlangen nach Liebe, nach dem Ursprung, nach allumfassender Einheit in allen Unterschieden. Aus der Erfahrung mit dem Dunklen entsteht das Verlangen nach Licht, mit dem Tod das Verlangen nach Leben. Aus dieser Sicht lässt das Gegensätzliche ein neues Verlangen entstehen, und so wird Selbstliebe zur Liebe zum Nächsten, Hass zur Anerkennung, Vergnügen zur Freude und Angst zum Vertrauen.


Fazit:


Es scheint mir, dass die Liebe als die allumfassende, unendliche Kraft alles Existierende zu einer Einheit verbindet und uns auffordert, diese Verbindung bewusst zu erfahren und zu leben. Durch ein höheres Bewusstsein tragen wir zur Heilung und Einheit in unserem Leben und in der Welt bei.
Liebe ist die Quelle aller Gegensätze, und in ihr liegt das Potenzial für Verbindung mit der Liebe zum Nächsten als tiefste spirituelle Erkenntnis. Indem wir die reine Liebe erkennen und die Verunreinigungen durch unser unbewusstes Menschsein überwinden, können wir die göttliche Essenz in unserem Leben verwirklichen und die Einheit aller Dinge erfahren.


9. Persönliche spirituelle Erfahrung im „Welthaus“:   Reshimot


Warum spielen Erinnerungen bzw. Reshimot eine wichtige Rolle in der Spiritualität?
Mit tiefem Respekt und Hingabe versuche ich, eine Antwort zu geben auf die Frage nach der Bedeutung der Erinnerungen, die mit dem spirituellen Fachwort “Reshimot” genannt werden.


Zunächst stelle ich mir einen Baum vor mit seinen Wurzeln, dem Stamm, den Ästen und seinen Blättern. Alles ist miteinander verbunden. Die Kraft, die sich der Baum über die Wurzeln aus der Erde holt, erhält ihn am Leben, ebenso sein unsichtbares “Atmen” über die Blätter sowie sein Kommunizieren mit den anderen Bäumen. Der Mensch ist in gewissem Sinn mit einem Baum vergleichbar. Seine “Wurzel” ist unsichtbar, sein Körper ist wie der Stamm und die Äste, seine Äußerungen und Handlungen sind wie die Blätter, und auch der Mensch lebt und kommuniziert mit seiner Umgebung, mit anderen Menschen, in der Gesellschaft, und im Zusammenspiel mit der Natur. Wie im Baum, so wirkt auch im Menschen eine treibende innere Kraft und Energie, die wichtig ist für das Wachstum bzw. für die Entwicklung.


Sofern diese Energie unseren Körper betrifft, so handelt es sich um die Lebensenergie, die in unseren Zellen und Gliedmaßen wirkt, um uns am Leben zu erhalten und uns Bewegung zu ermöglichen, ähnlich wie bei Tieren und Pflanzen. Zum System dieses Körpers gehört, dass alles so gesteuert ist, dass er für sich und seine Bedürfnisse und seinen eigenen Nutzen sorgt. Die Wissenschaften Biologie und Chemie beschreiben mit ihren Begriffen, wie dieser unser Körper funktioniert: Stoffwechsel, Herzrhythmus, Sauerstoff, Proteine…
Dass ohne Licht Leben nicht möglich ist, ist Allgemeinwissen. Alles Lebendige strebt zum Licht, um wachsen zu können. Aber Licht ist mehr als das Licht der Sonne, die wie eine Leuchte unseren Tag erhellt. Es ist etwas in uns, ein Verlangen nach Erfüllung, nach Freude, nach Genuss, nach Ganzheit. Dieses etwas andere System ist in unseren Körper eingebettet, unsichtbar, aber doch als Verlangen spürbar.


Nun zeigt es sich, dass bei uns Menschen dieses andere, innere System in uns wirkt: wir haben das Verlangen, etwas zu besitzen, z.B. ein Haus oder ein Auto, dann kaufen wir das, was unseren Wünschen entspricht, aber wir sind damit nicht rundherum zufrieden. Es scheint, dass wir, je mehr wir besitzen, immer noch mehr haben wollen, wie in einer endlosen Schleife. Und es ist offensichtlich, dass wir nicht zufrieden sind. Viele Menschen erleben gerade in dieser satten Welt, dass sie alles andere als satt sind, sie fragen sich plötzlich, was überhaupt der Sinn des ganzen Lebens ist?  Wofür lebe ich, wenn ich am Ende doch wieder sterben muss?


Hier bricht im System Mensch etwas auf, das mit “Erinnerung” bzw. “Reshimot” zu tun hat. Darauf kann keine Wissenschaft wirklich eine Antwort geben. Die Weisheit der Kabbala, diese andere Art der Wissenschaft, hat sich mit diesen “Erinnerungen” beschäftigt. Ihre Antwort ist für mich wegweisend und wie ein Wunder. Für die Kabbala bricht durch die Sinnfrage eine “Erinnerung” in uns Menschen auf, die wie ein kleiner “Lichteinfall” unser Herz berührt. Und genau diesen “Lichteinfall” möchte ich ein wenig näher erläutern.
Das Licht, als Quelle aller Schöpfung, leuchtet uns den Weg zu höheren Bewusstseinsebenen. Die Seele, untrennbar mit dem Licht verbunden, strebt nach einer Rückkehr zu ihrer göttlichen Quelle. Reshimot, die spirituellen Aufzeichnungen, bewahren die Erinnerung an vergangene spirituelle Erfahrungen und leiten uns auf unserem Weg der Entwicklung. Der Körper, das Gefäß des Verlangens, als Schale oder Gefäß vorgestellt (hebräisch Kli) symbolisiert unsere Fähigkeit, das göttliche Licht zu empfangen und es in uns zu integrieren.


Die Reshimot oder spirituellen Erinnerungen  befinden sich in der gesamten spirituellen Struktur des Menschen,  Sie speichern Informationen über vergangene spirituelle Erfahrungen und haben somit auch Einfluss auf  die zukünftige spirituelle Entwicklung. Sie sind wie ein spirituelles Gedächtnis  und beeinflussen weiterhin Reaktionen und Handlungen des Menschen auf zukünftige spirituelle Erfahrungen.
Das Licht und die Erinnerung an das Licht hängen in der Kabbala zusammen mit dem Schöpfungsgedanken: Dieser ursprüngliche Plan beinhaltet das Schaffen  eines Wesens, das den maximalen Genuss empfangen kann. Das zentrale Ziel des Schöpfungsgedankens ist es, ein Geschöpf zu erschaffen und ihm Liebe, Freude und Genuss zu bereiten.
Zwei Grundgedanken sind mir dabei wichtig geworden.
Da ist zunächst einmal die Frage, wann das Licht, das als kleiner Lichtfunke vorhanden ist, mehr und mehr Licht aus der göttlichen Lichtfülle empfangen kann? Nach meinem Verständnis wird Licht empfangen, wenn das Kli (Gefäß) bereit und geeignet ist, es zu empfangen. In der Kabbala bedeutet dies, dass das Kli ein aufrichtiges Verlangen entwickelt hat, das Licht zu empfangen, nicht für egoistische, sondern für altruistische Zwecke. Dieser Zustand des Empfangens des Lichts repräsentiert einen Zustand von spiritueller Erfüllung und Erkenntnis.


Die zweite Erfahrung ist, dass sich der Mensch immer wieder leer fühlt, in dem Empfinden, als ob sich das Licht wieder zurückgezogen hat. Dieses Gefühl der Leere und des Rückzugs hat u.a. auch die Bedeutung der spirituellen Reifung: das Zurückziehen des Lichts dient als ein Mechanismus, der das Kli bewegt, seine spirituelle Kapazität zu erweitern und seine Absichten zu läutern. Dieser Prozess wird als "Zimzum" (Einschränkung) bezeichnet und ist ein zentraler Aspekt des Schöpfungsakts. Durch das Zurückziehen des Lichts wird das Kli angeleitet, sich spirituell weiterzuentwickeln, im Sinne: je mehr Dunkelheit, desto mehr Licht, und je mehr Zerstörung und Trennung, desto mehr Verlangen nach Einheit und Aufbau und Verbindung.


Es ist ein schwieriger Prozess in der spirituellen Entwicklung zu glauben, dass alles Leiden und Dunkle dazu dient, mein Verlangen zu stärken nach Frieden und Licht. Denn alles, das Böse und Gute kommt aus einer guten Wurzel, wie ein Kabbalist schreibt: „Die Tiefe des Bösen und die Erhabenheit seiner Wurzel ist die Tiefe des Guten. Du findest, dass die Tiefe des Hasses die Tiefe der Liebe ist. Wenn wir zerstört wurden und die Welt mit uns durch unbegründeten Hass zerstört wurde, werden wir wiederaufgebaut und die Welt wird mit uns durch unbegründete Liebe wieder aufgebaut.“


Fazit:


In all den Inhalten, die hier unvollständig und nur skizziert sind, wird deutlich: die spirituelle Entwicklung hängt ab auch von den großen Erinnerungen, die  Kabbalisten an die Nachfolgegenerationen weitergeleitet haben, und den kleinen Erinnerungen der eigenen Erfahrungen und Empfindungen. Wer sich auf den spirituellen Weg mit anderen macht, spürt die kleinen Lichtblicke und hofft auf den großen Genuss des göttlichen Lichts, auf vollkommene Freude, dass sich unter den Menschen der einfache Sinn enthüllt und erfüllt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist unsere Aufgabe in der spirituellen Arbeit, dass wir uns über unseren Egoismus erheben und die Welt aus einer altruistischen Perspektive betrachten. Hierbei ist es wichtig, sich an die spirituellen Offenbarungen zu erinnern.