Atemschule  
 

 Kapitel 3.

*Die Zauberformel “tun, als ob”

Unser Bewusstsein hält für uns noch eine ganz besondere Möglichkeit bereit: mit Gedanken zu spielen, so zu tun, als ob.
Kinder lieben Rollenspiele. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sie spielen die Welt der Erwachsenen nach, spielen “Vater sein”, “Mutter sein”, erziehen dabei ihre “Kinder” in der Sprache von Erwachsenen. Sie trösten oder rufen ihre “Kinder” zur Ordnung - sie tun, als ob sie erwachsen wären. Sie leben mit ihren Puppen und mit all dem Spielzeug und tun dabei so, als ob es “echt” sei - wie im echten Leben. Interessant ist, dass die Kinder dann wieder aus dem Spiel aussteigen können. Das Spiel hat einen klaren Anfang und ein ebenso klares Ende.

Im Blick auf eine neue technische Errungenschaft, dem Roboter, schwärmen Entwickler, ihn menschenähnlich zu entwickeln-dass er wie ein menschliches Wesen auf  Fragen antworten und dem Menschen ein Begleiter werden könne im Alltag. Im Altenheim könne er Personal ersetzen, reagiere und rede mit den Insassen und gebe ihnen das Gefühl, dass sie nicht alleine sind. Es ist, als ob ein Mensch ganz für sie da sei, obwohl es sich bei einem Roboter um ein rein technisch und computergesteuertes, lebloses Glieder-Wesen handelt.

Aber selbst die Philosophie lebt von diesem “als ob”. Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann hat 2022 zu einem philosophischen Symposion eingeladen zum Thema “Als Ob - die Kraft der Fiktion”. In seiner Begrüßungsansprache zitiert Liessmann den Philosophen Immanuel Kant: “Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich selbst, und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde”. (Liessmann, Wien, 2022, S.11). Der Philosoph Liessmann schließt daraus: “Wir sind genau dann frei, wenn wir so tun, als ob wir frei wären” (S.12). Wir tun so, als ob es Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Würde usw. gibt.

Die Philosophie nennt dieses Vermögen unseres Bewusstseins Fiktion. “Fiktionen stellen sinnreiche Abstraktionen oder Modelle dar, die gerechtfertigt, also justifiziert werden können”.(Liessmann, S.13). Es sind Vorstellungen, Imaginationen, die sich im Leben zu bewähren haben-im Gegensatz dazu sind Illusionen Bilder, die sich nicht an der Realität bewahrheiten lassen: Zauberkünstler arbeiten mit vorgetäuschten, sehr beeindruckenden Illusionen, wenn sie Objekte vor den Augen ihrer Zuschauer einfach verschwinden lassen. Viele Menschen lassen sich tatsächlich gerne etwas vormachen.

Dass diese Fähigkeit unseres Bewusstseins bzw. unseres Denkens auch ihre Schattenseiten hat, zeigt sich an Verschwörungstheorien, Fälschungen und Betrügereien. Wer Geldscheine fälscht, tut so, als ob es “echtes” Geld sei.
An diesen Beispielen mit den Rollenspielen der Kinder, dem Roboter und auch wesentlichen Begriffen wie Freiheit, sei angedeutet, dass wir Menschen über eine wundervolle Gabe verfügen, unsere Wirklichkeit mit einem Als-Ob-Tun zu erforschen, zu verstehen und über Grenzen zu springen. Das braucht viel Phantasie, Kreativität und auch Spontaneität. Wir können uns in Visionen Dinge vorstellen, die den Traum einer besseren Welt zeichnen oder den Traum vom Frieden glauben und darum den Frieden erhoffen. Hoffnung scheint immer eine Als-Ob-Richtung zu haben: es ist jetzt nicht, aber wir haben die berechtigte Hoffnung, dass es sein wird.

Nirgends kann der Zusammenhang von Fiktion, Hoffnung und Selbstbewusstsein so klar beobachtet werden wie am Beispiel der Religion. Wer ein heiliges Buch in Händen hält, spürt nichts von der Heiligen Geschichte, die von Gott und den Menschen erzählt wird. Den Geschichten des Buches wird eine Bedeutung zugeschrieben, als ob Gott gehandelt hat, als ob er im Leben des Lesers - und sei es 2000 Jahre später - ebenso handelt und dasselbe auch in Zukunft. In der jüdischen Religion wird erzählt, wie ein Gott sich sein Volk erwählt und aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt hat. Die Christen halten sich an einen Wanderprediger, der eine besondere Beziehung zu seinem “Himmlischen Vater” gehabt habe, einem Gott der Liebe und Versöhnung. Christen glauben, dass dieser Mensch den Geist Gottes glaubwürdig gelebt und dass Gott sich in ihm offenbart habe. Moslems wiederum sagen, dass Mohammed der letzte Prophet Gottes gewesen sei und er die Offenbarung von einem Engel erhalten habe. Bei allen drei Religionen spielt das Buch als Offenbarung die zentrale Rolle: Tora und Propheten, das Neue oder Zweite Testament und der Koran. Die Bücher sind für die Glaubenden jeweils Heilige Bücher, weil sie Geschichten und Texte enthalten, die als Offenbarungen Gottes gelesen werden - als ob Gott sich darin offenbart hat. In diesem Bewusstsein lesen sie die Schriften und lassen sich in ihrer Existenz und ihrem Selbstbewusstsein von ihnen bestimmen. Diese Schriften sind wie Wegweiser für das Leben, schenken Hoffnung im Alltag, werden oft aber auch missverstanden und missbraucht: in ihrem Namen wurden und werden bis heute Kriege geführt und Menschen getötet.

Wie Fiktionen auch die Spiritualität befruchten, lässt sich sehr schön an einem Beispiel von Baruch Ashlag zeigen. Der Kabbalist schreibt in einem Brief 1955 an seinen Freund u.a. “…gleich (fangen) die Funken der Nächstenliebe an, in mir zu leuchten, und das Herz beginnt, sich zu sehnen und mit meinen Freunden zu vereinigen, und mir scheint, als würden meine Augen meine Freunde sehen, und als würden meine Ohren ihre Stimmen vernehmen, und [als würde] mein Mund mit ihnen sprechen; als würden meine Arme sie umarmen, als würden meine Füße in Liebe und in Freude mit ihnen im Kreise tanzen. Und ich verlasse meine physischen Grenzen und vergesse, dass es eine große Distanz zwischen mir und meinen Freunden gibt, und das ausgestreckte Land von vielen Kilometern kann uns nicht trennen, als würden meine Freunde in meinem Herzen stehen und alles sehen, was sich dort abspielt.” ( Auszug aus seinem Brief Nr.8). Der Leser des Briefes wird Zeuge einer Verbindung von Baruch Ashlag mit seinen Freunden - eine innige Verbindung über Distanzen hinweg. Sie sind verbunden, als ob sie da seien: er hört sie, kommuniziert mit ihnen, empfindet große Freude.

Was der gebildete Kabbalist beschreibt, ist eine Fiktion, die ihn aufs Innigste berührt und angeht: als ob sie wie in einem Herzen verbunden sind, und es hört sich an, als ob die Liebe zu den Freunden als Nächstenliebe Frucht trägt.

Zusammenfassung
Wir Menschen leben also auf unserer Lebensbühne mit der großen Möglichkeit des “Als-ob” - eine Möglichkeit, die auch in den Religionen, in der Spiritualität, beim Glauben an einen Gott oder überhaupt auch im Glauben an eine Idee zum Tragen kommt. Das “Als-ob” überschreitet Grenzen, bietet im Spiel von Gedanken und im Spiel allgemein Möglichkeiten, die Wirklichkeit anders zu sehen und zu erleben. Es ist, als ob wir spüren, dass unsere Wirklichkeit größer ist, als wir sie im Alltag erleben, auch größer, als es uns die Wissenschaften erzählen und als unser Verstand fassen kann. Es ist, als ob wir das Ganze nicht erfassen können. Aber wir können so tun, als ob das Ganze eine Einheit bildet und Sinn hat.
Die Frage ist, ob unser Verstand dazu fähig ist, diese Einheit zu erkennen und ob unser Verstand solche Grenzen überwinden kann. Darum sind wir im nächsten Teil dem Verstand auf der Spur.