Kapitel 5 & 6
Der Spiritualität auf der Spur
Der niederländische Philosoph Koo van der Wal hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wesen der “Spiritualität” zu erfassen. Sein Fazit lautet: “Wenn wir uns…der begrifflichen Struktur des Phänomens der Spiritualität (zuwenden)...,so werden wesentliche Merkmale mit Begriffen wie dem Transzendenten, Unendlichen, Geheimnisvollen, Erhabenen, Ehrfurcht gebietenden, Absoluten, Letztendlichen, Ewigen, Heiligen, Unermesslichen und anderen benannt”. (van der Wal, Koo, die Sehnsucht nach dem Mehr-als-Gewöhnlichen, in der blaue reiter, 2/2023, Heft Nr.52, S.14/15) Diese Begriffe deuten eine umfassende Wirklichkeit an, die Menschen, wenn sie Erfahrungen mit dieser Wirklichkeit machen, in ein Gefühl hinein nimmt von Freude und Liebe, Glück und Zufriedenheit. Voraussetzung ist, dass sie sich darauf einlassen und das spirituelle Geschehen zu einem tiefen Erleben wird. Eine Zuschauerposition scheidet hier aus.
Eine wichtige Frage bleibt allerdings, wie von etwas geredet werden kann, für das uns die Worte und Begriffe fehlen. Wie sich bereits am Beispiel der “zerbrochenen Seele” zeigt, helfen Bilder, Metaphern, Gleichnisse und Symbole, um die andere Dimension zum Unendlichen hin in Worte zu fassen und beschreibbar zu machen.
Und das beginnt schon beim Begriff “Spiritualität”, der nicht einfach definiert werden kann, sondern von seinem lateinischen Ursprung her ein Sinnfeld andeutet: Luft, Hauch, Atem, Geist, Begeisterung (lateinisch: spiritus, entsprechend das Verb spirare). Spiritualität steht also für Leben und Lebendigkeit - unsichtbar wie der Wind - und doch sichtbar in seiner Wirkung. Wie sich Bäume im Wind bewegen, so bewegt uns der Geist in unseren Vorstellungen und im Denken und vor allem auch in der Kommunikation. Spiritualität ist immer auch Kommunikation mit dem Göttlichen, Unendlichen und gleichzeitig Kommunikation durch Hören und Sprechen mit einem Du, wie auch das Atmen beschrieben werden kann als Kommunikation mit der Natur. Spiritualität regt Prozesse an, die Menschen herausholen aus innerer Isolation hin zum Bewusstsein eines großen Ganzen, mit dem der Einzelne als Individuum verbunden ist. Dieses große Ganze findet sich in der Vorstellung eines universalen Wesens, das die einen die “Höhere Kraft” nennen, andere “Gott” oder “Schöpfer”, oder “der Eine”, der "Allumfassende"…
6. Gott als universale Einheit und Realität
Da unser menschlicher Verstand begrenzt ist und keine Wissenschaft die gesamte Wirklichkeit erfassen kann, ist die erste Voraussetzung anzuerkennen, dass uns Menschen Grenzen gesetzt sind.
Eine zweite Voraussetzung jeder Spiritualität bzw. jeder religiösen Erfahrung ist daher, dass ein göttliches Wesen sich selbst offenbart haben muss, so dass wir Menschen überhaupt erst angemessen von dieser Ursprungskraft reden können. Ansonsten wäre Gott tatsächlich eine reine Wunschvorstellung des Menschen.
Wir gehen also davon aus, dass sich in unser “Welthaus” hinein, von einem “höheren Stockwerk” aus, eine Kraft, wie immer wir uns sie vorstellen, gezeigt bzw. offenbart hat, unsichtbar, aber präsent. Sie hat uns in dieses Welthaus hinein entlassen und uns Raum gegeben, unser Leben zu leben und zu gestalten, zusammen mit anderen.
Das bringt uns an eine dritte Voraussetzung: nicht nur, dass sich das Göttliche selbst offenbart hat, sondern dass wir eine bestimmte schriftliche oder mündliche Tradition als “göttliche Offenbarung” annehmen. In unserem Fall beschränken wir uns auf die Tradition der hebräischen Tora, der Propheten und Lieder bzw. Sprüche der Weisheit.
Daraus ergibt sich eine vierte Voraussetzung: es ist die Frage, wie diese alten, schriftlich fixierten religiösen Texte zu verstehen sind und wie sie neu ausgelegt werden können in jede Zeit und damit auch in unsere Zeit hinein.
Das Welthaus hat eine Geschichte. Intensiv haben sich im Laufe der Geschichte zwei Denker mit der Gottesfrage beschäftigt, die heute für die spirituelle Erfahrung nachdenkenswert sind: Anselm von Canterbury (11.Jh) und Baruch de Spinoza (17.Jh).
Der Erzbischof Anselm von Canterbury ist u.a. mit dem Satz berühmt geworden: credo, ut intelligam, d.h. Ich glaube, damit ich erkenne. Für Anselm ist dabei wichtig, dass Gott sowohl der Urheber für den Glauben, als auch für das Wissen ist. Der Mensch kommt zu einem Wissen von Gott nur, wenn er glaubt. “Es scheint mir eine Nachlässigkeit zu sein, wenn wir, nachdem wir im Glauben befestigt sind, nicht danach trachten, das, was wir glauben, einzusehen”. Er führt in diesem Zusammenhang ein schönes Beispiel an, das wir Menschen aus Erfahrung kennen: wer liebt, will seine Geliebte erkennen - und wer die Liebe Gottes gespürt hat, will ihn auch mit dem Verstand erfassen und kennen. Ohne den Glauben ist es für den Verstand nicht möglich, Gott zu erkennen. Diese Sichtweise ist heute schwer zu verstehen, weil viele denkende Menschen umgekehrt argumentieren: ich muss Gott erst erkennen, dann kann ich glauben-und weil ich ihn nicht erkennen kann, bin ich Atheist und glaube nicht, dass er existiert. Vielleicht braucht es wirklich die Erfahrung der Liebe im Zusammenhang mit Gott.
In seinem großen Werk “Ethik” legt der philosophische Denker Baruch de Spinoza dar, wie er darauf gekommen ist, die “geistige Liebe zu Gott” als das wahre und größte Gut zu beschreiben: “Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Ding nährt die Seele mit der einzig wirklichen Freude und ist aller Trauer ledig”. (zitiert nach W. Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, 8.Aufl. München,1982, S. 138). Auf seiner Suche nach dem “wahren Gut” entdeckt er, dass die Menschen nach den höchsten Gütern streben, nach Reichtum, Ehre und Lust-dass diese Güter aber “flüchtig” d.h. vergänglich seien. Alles vergeht, nichts ist beständig. Das einzig Beständige ist für Spinoza die Liebe zum Göttlichen. Und aus dieser Erfahrung der Liebe schließt er auf das Göttliche, das überall und in allem existiert, wie er in einem Briefwechsel 1675 an einen Freund schreibt: “Denn ich begreife Gott als die immanente und nicht als äußere Ursache aller Dinge. Daher behaupte ich, dass alles in Gott lebt und webt”. Die Begriffe “Gott”und “Natur” liegen auf einer Ebene und sind austauschbar, wie sich in seinem Werk “Ethik” an einigen Stellen zeigen lässt. Ein Beispiel dafür im Prolog zum IV Buch(Lateinisch/Deutsch : Ostendimus enim in primæ partis appendice Naturam propter finem non agere; æternum namque illud et infinitum Ens quod Deum seu Naturam appellamus, eadem qua existit necessitate agit - Wir haben im Anhang des ersten Teils dargelegt, dass die Natur nicht handelt um eines Zweckes willen; denn jedes ewige und unendliche Sein, das wir Gott oder Natur nennen, handelt aus derselben Notwendigkeit, mit der es existiert”(Spinoza, Ethica IV, Vorwort). Gott ist die einzige Substanz, die existiert, und alles, was in dieser Welt existiert, sind Emanationen, Ausstrahlungen dieses e i n e n göttlichen Wesens, und wir Menschen als Geschöpfe haben dadurch die Möglichkeit, in allen Dingen und Geschehnissen das Licht göttlicher Wirklichkeit zu erahnen und zu spüren. Umgekehrt ist damit ein spirituelles Wissen entstanden, das davon lebt, das Absolute als eine lebenspendende Energie im Lebensalltag nicht nur theoretisch zu behaupten, sondern praktisch zu fühlen.
Dieses Absolute als universelle Einheit hat niemand so treffend und prägnant in Worte gefasst wie der große Kabbalist RAV Yehuda Ashlag, genannt auch Baal HaSulam: “ ‘Es gibt nichts außer Ihm’, was bedeutet, dass es keine andere Kraft gibt, die über eine Möglichkeit verfügen würde, etwas gegen den Schöpfer zu tun. Und wenn der Mensch sieht, dass es in der Welt Dinge und Kräfte gibt, welche die Existenz der Höheren Kraft verneinen, so ist der Grund dafür, dass so der Wille des Schöpfers ist.” ( RAV Jehuda Ashlag, Shamati,ich hörte,1.Aufl. Bielefeld, 2012, S.21). Die Höhere Kraft, das ist aus diesem Zitat zu entnehmen, ist die einzige wahre Realität-und sie wirkt als universale Einheit umfassend. Dann wäre also das, was wir im unteren Stockwerk des Welthauses wahrnehmen, eine Schein-Realität, abhängig jeweils von dem, was wir durch unsere Sinne erfahren und dann entsprechend unserer Empfindungen beurteilen.
Und da sind wir bei der Frage, warum wir Menschen unsere Realität eher als Trennung wahrnehmen, obwohl der spirituelle Glaube von einer universalen Einheit ausgeht. Wohin der Blick fällt: wir trennen in Nationen, Sprachen, Länder, Kulturen, Religionen und sehen nicht mehr das Gemeinsame, haben den Blick für den gemeinsamen Grund verloren, auf dem wir uns bewegen. Es ist, als würden wir jeweils auf Inseln leben, die nicht miteinander verbunden sind. Sind wir also eher Trennungs- als Verbindungswesen? Hat die Geschichte von der zerbrochenen Seele, wo oben angedeutet, nicht doch mehr Wahrheit als wir es in unseren Köpfen wahrhaben wollen? Ist in uns etwas zerbrochen, dass wir uns mit dem Fremden so schwer tun?
Das spirituelle Bewusstsein der Einheit und Verbindung mit einem göttlichen Urgrund, in dem alles verbunden ist, ist vielleicht die einzige Möglichkeit, dass sich in diesem Welthaus etwas verändert, ganz im Sinne der amerikanischen Philosophin Helen Cruz. Wir können unsere globalen Krisen nur bewältigen, wenn “wir uns selbst als ökologische und vernetzte Formen des Selbst neu begreifen” - ökologisch heißt in e i n e m Haus, vernetzt, verbunden.
Nach diesen Gedanken und Erörterungen über allgemeine Aspekte der spirituellen Weisheit folgen in drei weiteren Abschnitten persönliche Beschreibungen darüber, wie ein Student der Kabbala spirituelle Inhalte erlebt und verarbeitet. Wichtige Inhalte sind für ihn Sinn des Lebens, Atmen, Gegen- sätze, Bi-Polarität und Einheit, Liebe und Reshimot (Erinnerungen) - mit dem Ziel vor Augen, dass ein neues Selbstbewusstsein entsteht, damit sich etwas in uns und damit in unserem Welthaus verändert.